Artikel von Claus Michelsen
Der Trend zum Homeoffice wird den Wohnungsmarkt verändern. Er wird aber nicht sofort zur Verödung der Städte führen.
Der nicht erledigte Abwasch, Malereien der Sprösslinge an der Wand oder das Kellerverließ – die vielen Videokonferenzen in der Corona-Zeit eröffnen ungeahnte Einblicke in die privaten Räumlichkeiten vieler KollegInnen und GeschäftspartnerInnen. Die eigenen vier Wände sind in den vergangenen Monaten für zahlreiche Beschäftigte gewollt oder ungewollt zum Arbeitsplatz geworden.
Sichtbar wird dies in Zahlen von Google: Der Internetriese zeichnet auf Grundlage seiner Standortermittlung die Mobilitätsmuster und Aufenthaltsorte vieler Menschen auf. Seit Ausbruch der Pandemie ist die Zahl der Aufenthalte am Arbeitsort um rund ein Viertel zurückgegangen, S- und U-Bahn-Stationen werden weitaus seltener frequentiert – in Spitzenzeiten um rund 40 Prozent. Spiegelbildlich stieg die verbrachte Zeit an den Wohnorten oder in den umliegenden Parks kräftig an. Das ist auch gut so, denn – das zeigen Studien, unter anderem des DIW Berlin – das Pendelgeschehen hat im Frühjahr maßgeblich dazu beigetragen, dass sich das Virus ausbreiten konnte.
Die Coronakrise hat also die Lebens- und Arbeitsgewohnheiten innerhalb kürzester Zeit auf den Kopf gestellt. Immerhin gut 35 Prozent der Beschäftigten arbeiten aktuell von zu Hause aus, zeigt die Sonderbefragung des Sozio-ökonomischen Panels (SOEP) am DIW Berlin. Knapp 60 Prozent sind dabei genauso produktiv oder gar produktiver als am Arbeitsplatz im Büro. Für Unternehmen zumindest – so vernimmt man vereinzelt aus der Zeitung – ist die neue Flexibilität also eine Chance. Vordergründig, weil Büroflächen nicht mehr in der bisherigen Größe benötigt werden und so Kosten reduziert werden können. Zukünftig wahrscheinlich auch deshalb, weil der demografische Wandel ohnehin zu mehr Flexibilität bei den Arbeitszeiten und -orten zwingt.
In den kommenden Jahren wird die Erwerbsbevölkerung in Deutschland deutlich sinken. Das Statistische Bundesamt projiziert, dass die Zahl der Personen im erwerbsfähigen Alter bis in das Jahr 2035 um vier bis sechs Millionen Menschen zurückgehen wird, also um rund zehn Prozent. Ein Ausweg wäre, mehr Menschen das Erwerbsleben zu ermöglichen, die bislang nicht am Arbeitsmarkt aktiv waren. Befragungen zeigen, dass die Vereinbarkeit von Beruf und Familie mit flexiblen Arbeitszeitmodellen deutlich besser gelingt. Insofern dürfte das Homeoffice in den kommenden Jahren ohnehin deutlich intensiver genutzt werden, auch ohne Corona-Pandemie.
Schon jetzt suchen Deutsche größere Wohnungen
Dies könnte Konsequenzen auch für den Wohnungsmarkt haben: Der Küchentisch als provisorisches Büro wird keine permanente Lösung sein. Haushalte werden größere und andere Wohnflächen nachfragen. Auf den einschlägigen Immobilienplattformen stiegen seit dem Frühjahr die Suchanfragen für Eigenheime in den Speckgürteln erheblich. Der Marktführer Immobilienscout24 berichtet von einer Zunahme von 50 Prozent gegenüber dem Jahr 2019 – neben dem Bedürfnis nach Grün und Freiraum könnten sich darin auch die Erwartungen geringerer Pendelbewegungen an die zentralen Orte niederschlagen. Fällt der Weg ins Büro weg, bedeutet dies auch erheblich weniger Nachteile, wenn man in der Peripherie wohnt. Immerhin pendeln ArbeitnehmerInnen in Deutschland im Durchschnitt täglich 40 Minuten zur Arbeit, in Ballungszentren häufig noch deutlich länger.
Allerdings wird dies nicht zu plötzlich verödenden Großstädten führen. Umzüge sind kostspielig. Nicht nur, weil Billy dann ein oder zwei neue Zwillingsbrüder braucht, sondern vielmehr, weil das soziale Umfeld meist an den Wohnort geknüpft ist. Schule, FreundInnen und liebgewonnene Gewohnheiten müssen bei einem Ortswechsel zurückgelassen werden. Und so ziehen Haushalte im Durchschnitt dann auch nur alle elf Jahre in eine neue Wohnung, meist, weil der Job oder die familiäre Situation sich ändern. Es ist also wahrscheinlicher, dass sich Haushalte zunächst in den bestehenden vier Wänden neu einrichten und erst bei grundlegenderen Einschnitten nach Alternativen und für das Homeoffice besser geeigneten Räumlichkeiten umsehen werden.
Es wird einen schrittweisen Wandel geben
Perspektivisch wird dies dann die Innenstädte entlasten, wenn mehr Menschen das Umland als Wohnort bevorzugen. Andererseits dürfte die Wohnfläche pro Kopf steigen und auch die Stadtbevölkerung im Durchschnitt größere Wohnungen suchen. Bereits seit der Jahrtausendwende hat die durchschnittliche Wohnfläche pro Kopf um zehn Prozent auf jetzt rund 45 Quadratmeter zugelegt. Auf dem Land gönnen sich Haushalte weitaus mehr Freiraum – dort liegt der Wohnflächenverbrauch bei gut 52 Quadratmetern pro Kopf, in Städten sind es nur gut 40 Quadratmeter.
Die Coronakrise wird die Wohnungsmärkte also nicht auf den Kopf stellen, aber doch zu einem schrittweisen Wandel führen. Unternehmen werden diesen aus Eigeninteresse unterstützen – die Politik sollte den Prozess aber ebenfalls fördern. Ganz kurzfristig, weil das Homeoffice ein effektiver Gesundheitsschutz ist. Mittelfristig, weil die Erwerbsbevölkerung sinkt und flexible Arbeitsmodelle das gesamtwirtschaftliche Wachstumspotenzial erhöhen.
Ein erster Schritt wäre, die steuerliche Absetzbarkeit des Homeoffice wieder zu ermöglichen. Ein zweiter Schritt, die Voraussetzungen für häusliche Arbeitsplätze und die Anforderungen auf ihre Praxistauglichkeit hin zu überprüfen. Ebenfalls könnte der Wandel dahingehend gestützt werden, dass Unternehmen ihre Investitionen in digitale Betriebsstrukturen steuerlich schneller abschreiben könnten. Zu guter Letzt sind es auch öffentliche Investitionen in die Infrastruktur, die ohnehin notwendig sind, aber noch dringlicher werden: Gut ausgebaute Verkehrswege sind neben schnellen Datenautobahnen die Voraussetzung, dass dezentral organisierte und flexible Arbeitsweisen funktionieren können.
Dieser Artikel von Claus Michelsen ist am 3. November 2020 als Gastbeitrag im Der Tagesspiegel erschienen.